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Seele für Seele

Das Bild zeigt das Logo des Musicals School of Rock

Rezension vom 16.08.25

in Luisenburg

Zwischen mythischer Düsternis und moderner Musicalästhetik

„Seele für Seele - Freischütz“ auf der Luisenburg

Mit „Seele für Seele - Freischütz“ haben Frank Nimsgern (Musik, Arrangements) und Birgit Simmler (Buch, Liedtexte, Regie) den deutschen Mythenstoff radikal neu gedacht und ein Werk geschaffen, das gleichermaßen Kriminalfall, Mystery-Drama und modernes Musiktheater ist. Die Koproduktion zwischen dem Festspielhaus Neuschwanstein und den Luisenburg-Festspielen fand in Wunsiedel in einer besonders atmosphärischen Umgebung statt: Die Naturkulisse der Felsenbühne verstärkt die Schwere und Düsternis des Stücks auf beinahe magische Weise.

Handlung zwischen Jahrmarktszauber und Mordermittlung

Anders als Webers „Freischütz“ mit seinen jagdromantischen Bildern setzt dieses Musical auf einen Jahrmarkt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der von Anfang an einen leicht unheimlichen, morbiden Unterton trägt. Ein tödlicher Unfall zwingt Kommissar Adam zu ermitteln, während über allem die geheimnisvolle Zauberschau „Seele für Seele“ schwebt. Hier werden die titelgebenden „magischen Kugeln“ nicht nur als Effekt, sondern als Symbol für den Preis der Liebe eingeführt: Wer sie schießt, kann töten - aber verliert Stück für Stück die eigene Seele.

In diesem Spannungsgeflecht steht das Paar Karin (Anna-Sophie Weidinger) und Abel (Manuel Karadeniz) im Zentrum. Ihre Beziehung wird in einem archaischen Spiel von Liebe, Eifersucht, Gier und Schuld immer weiter aufgerieben, vor allem durch die gezielte Manipulation der Magierfiguren Sam, Lilly und Maëstra. Dieses Dreigestirn, angeführt von Sam (Dante Sáenz), wirkt wie eine moderne, verführerische Verkörperung von Samiel - dämonisch, aber zugleich faszinierend.

Inszenierung und Regiehandschrift

Regisseurin Birgit Simmler geht in ihrer Fassung konsequent eigene Wege. Wo der klassische „Freischütz“ das Übernatürliche eher schaurig-romantisch deutet, setzt Simmler auf eine düstere, atmosphärisch dichte Bildsprache. Das Bühnenbild von José Luna betont dies: Der Jahrmarkt mit seiner halb verfallenen, halb verführerischen Ästhetik, die flackernden Lichter und die bedrohlich anmutende Achterbahn, die Karin und ihre Mutter Eva betreiben, wirken wie Allegorien für Versuchung und Verfall. Gerade die Szene, in der die Achterbahn als Projektionsfläche für Abels innere Zerrissenheit genutzt wird.

Gesangliche Leistungen - zwischen Brillanz und Überforderung

Gesanglich zeigt die Cast eine gemischte Leistung. Anna-Sophie Weidinger (Karin) überzeugte mit einer klaren, emotional geführten Stimme, die besonders in den lyrischen Passagen („Wir gegen die Welt“-Moment zwischen Karin und Abel) ihre Stärke entfaltete. 

Genauso beeindruckte Soetenga (Eva) mit ihrer gewohnt aussergewöhnlichen gesanglichen Leistung in jeder Szene und versetzte das Publikum immer wieder ins Staunen.

Dante Sáenz (Sam) war darstellerisch ein Höhepunkt: Mit einer faszinierenden Mischung aus Anziehung und Bedrohung prägte er zahlreiche Szenen besonders dann, wenn er als Erzählerinstranz die „Kugeln lenkte“ und damit die Handlung verdichtete. Er brachte viel Ausdruckskraft in seine Rolle, kämpfte aber in höheren Lagen teils mit der Intonation.

Anja Backus lieferte darstellerisch eine Glanzleistung ab und faszinierte mit ihrer Ausdruckskraft. Scheinbar spielerisch gelang es ihr, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Auch gesanglich überzeugte sie mit ihrerkraftvollen Stimme. Nur vereinzelt wirkten einige Passagen für mich sehr kraftvoll, fast wie ein Ausruf, was im Kontrast zum ansonsten sehr schönem Vortrag stand. Dadurch entstand der Eindruck einer besonders intensiven Emotionalität, die sich vom restlichen, eindrucksvollem Gesang etwas abhob.

Musik zwischen Modernität und Mythenklang

Frank Nimsgerns Musik ist ein Kraftakt: Sie oszilliert zwischen dunklen Klangflächen, harten Rhythmen und gefühlvollen Balladenelementen - ein musikalisches Sinnbild für das Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne. Auffällig ist, dass Nimsgern bewusst auf jeden direkten Bezug zu Webers Oper verzichtet. Statt Zitate oder ironische Verweise einzubinden, entsteht eine ganz eigenständige Klangwelt, die den Stoff neu fasst.

Trotz dieser Souveränität ging leider etwas von der Wirkung dadurch verloren, dass die Musik von Band kam und so etwas an Atmosphäre auf der Strecke blieb.

Figurenzeichnung - sehr vielschichtig

Stark ist die dramaturgische Führung der Figuren. Karin und Abel wirken zu Beginn fast wie naive Liebende, werden jedoch sichtbar in die Zerrissenheit ihrer Gefühle hineingezogen. Besonders die Rolle der Eva (Femke Soetenga), die zwischen Schutzinstinkt und Mitschuld schwankt, fügt eine unerwartete Tiefe hinzu. Kommissar Adam (Mischa Mang) dagegen liefert die irdische, nüchterne Gegenstimme zur geheimnisvollen Magierwelt. Sein nüchterner Realismus prallt immer wieder wirkungsvoll auf die dämonischen Verheißungen von Sam.

Fazit: Ein originell neues, aber nicht fehlerfreies Musikdrama

„Seele für Seele – Freischütz“ ist ein ambitioniertes, düsteres und atmosphärisch dichtes Musikdrama, das den Freischütz-Mythos von Grund auf neu interpretiert. Die Mischung aus Mystery, Krimi und archaischem Liebesdrama verleiht dem Stück einen Reiz, der sich klar von gängigen Musical-Konventionen abhebt.

Gleichzeitig bleibt die Aufführung nicht makellos: Gesanglich schwankte das Ensemble zwischen starker Präzision einzelner Solisten und Überzeichnung, wodurch die musikalische Linie gelegentlich bricht. 

Doch gerade dieser Mut, mehr zu riskieren als zu glätten, macht das Musical einzigartig. Auf der Felsenbühne in Wunsiedel entfaltet es seine größte Kraft als modernes, ungeschöntes Seelendrama, das den Zuschauer mit archaischen Fragen konfrontiert: Wie weit darf Liebe gehen? Wann kippt sie in Besessenheit? Und ist Vergebung stärker als Rache?

 

Trailer SEELE für SEELE

 

Vergleich: „Seele für Seele - Freischütz“ vs. Webers Oper

Stoff und Figuren

Webers Oper (1821):
Im Zentrum stehen Max, Agathe und der Pakt mit Samiel. Max verfällt der Versuchung, magische Kugeln zu nutzen, um beim Probeschuss erfolgreich zu sein, und gerät dadurch in tödliche Gefahr. Der Konflikt ist stark an Moral, Volksglauben und christlich-religiöse Sühnevorstellungen gebunden. Samiel erscheint als satanische Gestalt, die aus der Hölle heraus agiert.

Nimsgern/Simmler (2025):
Hier gibt es keine Jägerschaft, keine gottgesandte Rettung und keine Hirsche mehr. Stattdessen spielt die Handlung auf einem Jahrmarkt mit einer Zauberschau. Karin und Abel entsprechen lose dem Liebespaar Max und Agathe, tragen jedoch moderne, soziale Konflikte aus: Abhängigkeit, Eifersucht, Verführung. Sam ist kein dämonischer Unhold, sondern ein gefallener Engel, eine ambivalente, charismatische Kunstfigur, die den Menschen eher psychologisch als metaphysisch verfällt.

Fazit: Wo Weber ein christlich-moralisierendes Märchen aufführt, suchen Nimsgern und Simmler nach archaisch-universellen Mustern (Liebe, Schuld, Vergebung), die aus der religiösen Enge herausgelöst sind.

Ort und Atmosphäre

Webers Oper:
Die berühmte Wolfsschlucht-Szene ist ein Höhepunkt der deutschen Romantik. Natur als Spiegel von Angst, Aberglauben und mythischer Bedrohung. Der Wald ist ein magisch-dämonischer Raum, der Angst wie Faszination erzeugt.

Seele für Seele:
Die dunkle Atmosphäre wird auf einen Jahrmarkt im frühen 20. Jahrhundert verlegt. Fahrgeschäfte, Achterbahnen und Varieté-Elemente dienen als Ersatz für die mythische Wildnis. Die „Wolfsschlucht“-Übersteigerung mit Spuk und Geistern ist hereingebrochen in eine Welt von Schein und Verführung. Eine besonders dichte Szene ist z. B. die Verführung durch die „Zauberertruppe“, die als Schausteller auftreten.

Fazit: Nimsgern/Simmler ersetzen die Naturmystik Webers durch eine Theater-im-Theater-Situation auf dem Rummel, die den Fokus stärker auf Täuschung und Manipulation als auf Naturglauben legt.

Religion und Moral

Webers Oper:
Die Rettung liegt klar bei einer höheren Macht: Agathes Gebet und die göttliche Gnade führen Max trotz Sünde zur Vergebung. Damit ist die Oper fest in der Tradition der christlichen Heilsvorstellung verortet.

Seele für Seele:
Es gibt kein göttliches Eingreifen, keine finale Deus-ex-machina-Moral. Stattdessen werden Schuld und Vergebung rein menschlich verhandelt. Ob ein Kreislauf aus Rache und Schmerz durchbrochen werden kann, liegt einzig in den Entscheidungen der Figuren.

Fazit: Die moderne Neufassung überträgt das Drama von der Erlösungsmoral zur psychologischen Verantwortung. Nicht Gott rettet, sondern Menschen retten oder verlieren sich selbst.

Musik

Webers Oper:
Weber benutzt Volksliedhaftes, Naturlaute und Chorszenen. Seine Musik ist romantisch, voller Klangbilder (Wald, Jagd, Hörner). Viele Melodien haben Ohrwurmcharakter, sie sind leicht wiedererkennbar.

Seele für Seele:
Frank Nimsgern komponiert in einem zeitgenössischen Cross-over-Stil, der Rock, symphonische Dramatik und elektronische Elemente verwebt. Keine einzige direkte Übernahme aus Weber, keine ironische Zitatstruktur, stattdessen eine eigenständige, düster-moderne Klanglandschaft. Manche Balladen glänzen, manche Ensembles verlieren sich in Lautstärke.

Fazit: Musikalisch lösen Nimsgern/Simmler die Tradition komplett auf. Wo Weber uns durch „volkstümliche Musik in den Bann des Unheimlichen“ führt, setzt Nimsgern auf ein postmodernes Sounddrama ohne nationalromantische Konnotationen.

Wirkung und Botschaft

Weber:
Moralisch klar: Wer sündigt, läuft Gefahr, aber göttliche Gnade kann retten; ein mahnendes, aber auch tröstliches Stück.

Nimsgern/Simmler:
Doppelt gebrochen: Liebe ist Machtspiel, Vergebung ist keine theologische Gewissheit, sondern eine Entscheidung, die scheitern kann. Keine beruhigende Moral, sondern existenzielles, offenes Ende.

Fazit: Während Weber die Gesellschaft beruhigt („alles nimmt ein gutes Ende“), wollen Nimsgern/Simmler unbequeme Fragen stellen, nicht Antworten geben.

Schlussüberlegung

Die Gegenüberstellung zeigt: „Seele für Seele – Freischütz“ ist keine Neuinszenierung, sondern eine radikale Neuerschaffung. Wo Weber Romantik, Natur und Frömmigkeit durchspielt, entwirft die moderne Fassung ein kaltes, archaisches Spiegelspiel der Seele.

Gerade für Kenner des Originals ist das Werk einerseits befremdlich, da es alle ikonischen Elemente (Wolfsschlucht, Hörnerklang, frommes Happy End) tilgt, andererseits faszinierend, weil es die Frage stellt: Wenn wir den mythischen Kern von „Freischütz“ entkleiden – bleibt nicht am Ende ein zeitloses Drama über Liebe, Schuld, Versuchung und Vergebung?

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