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West Side Story

Rezension vom 29.07.25
in Schwäbisch Hall

„West Side Story“ 2025 in Schwäbisch Hall: Zwischen Steintreppen und sozialen Abgründen.

Die 100. Jubiläumsspielzeit der Freilichtspiele Schwäbisch Hall präsentiert eine starke, vielschichtige Inszenierung von Leonard Bernsteins Musicalklassiker voller Energie, Symbolik und musikalischer Wucht.

Wenn ein Festspiel sein 100-jähriges Jubiläum feiert, sind die Erwartungen hoch. An die Repräsentationskraft der Produktion, an ihre künstlerische Haltung, an ihren Mut zur Relevanz. Die diesjährige „West Side Story“-Inszenierung auf der monumentalen Großen Treppe der Schwäbisch Haller Altstadt erfüllt viele dieser Erwartungen - aber anders, als man es vielleicht erwartet hätte... Nicht durch radikale Neuinterpretation, sondern durch symbolisch dichte Bilder, musikalische Exzellenz und ein Gespür für die zeitlose Relevanz des Stoffes.

 

Eine klassische Geschichte - mit subtiler Gegenwart

Regisseur Christian Doll entscheidet sich bewusst gegen ein vordergründig politisches Regietheater. Statt plakativem Zeitbezug rückt er die universellen Themen des Stücks in den Mittelpunkt: Ausgrenzung, Rassismus, Identitätsverlust und Jugendkriminalität in sozialen Brennpunkten. Konflikte, die heute ebenso aktuell sind wie 1957. Und genau darin liegt die Stärke der Inszenierung: Sie vertraut auf die Kraft des Originals und aktualisiert es durch kluge ästhetische Entscheidungen.

Ein zentrales Beispiel ist das Bühnenbild:

Die Symbolstarken Trümmerteile der Freiheitsstatue.

Krone (Crown, symbolisiert mit ihren sieben Zacken sie sieben Kontinenten und sieben Weltmeere, also die weltweite Bedeutung der Freiheit) und Fackel (Torch of Liberty, symbolisiert die Erleuchtung, Hoffnung und Freiheit. Es soll den Weg in die Freiheit zeigen und symbolisch Licht in die Dunkelheit tragen.) der ikonischen Figur liegen wie gescheiterte Versprechen über den Stufen. Die Aussage ist deutlich: Der amerikanische Traum liegt in Trümmern, zerschlagen von systemischem Rassismus, sozialer Spaltung und Gewalt. Dieses Bild steht nicht nur für eine historische Rückschau, sondern auch für eine kommentierende Deutung der Gegenwart - imposant und wirkungsvoll!

 

Aufstieg, Fall, Bewegung: Die Bühne als soziale Topografie

Die choreografische Arbeit von Kati Farkas setzt genau hier an. Die Treppe wird zum Resonanzraum sozialer Bewegung: Aufstieg, Fall, Kampf um Sichtbarkeit und Zugehörigkeit. In Szenen wie dem "The Rumble" verschmelzen Tanz und Architektur zu einer körperlichen Metapher sozialer Hierarchien. Die Jets wirken kantig, territorial, abweisend; die Sharks tanzen mit explosiver Energie, getrieben von Überlebenswillen und innerer Spannung.

Die Entscheidung, die herausfordernde Große Treppe als Bühne choreografisch zu nutzen statt zu umgehen, ist künstlerisch wie symbolisch klug und einer der stärksten Aspekte der Inszenierung.

 

Musikalische Umsetzung: Präzise, farbenreich, emotional

Musikalisch bewegt sich die Produktion auf sehr hohem Niveau. Unter der Leitung von Heiko Lippmann entfaltet das Orchester die gesamte Farbpalette von Bernsteins Partitur: lateinamerikanische Rhythmen, jazzige Dissonanzen, lyrische Streicherlinien. Alles klingt präzise, dynamisch und ausgewogen. Der Klang ist trotz Open-Air-Bedingungen hervorragend abgemischt: Dank dezent platzierter Lautsprecher entlang der Treppe entsteht ein fast immersives Klangerlebnis.

Auffällig: Alle Songs – von „Tonight“ bis „America“, von „I Feel Pretty“ bis „Somewhere“ werden in vollständiger deutscher Übersetzung gesungen. Das bedeutet: Die Titel bleiben meist englisch, die Texte jedoch stammen aus der Übersetzung von Frank Thannhäuser und Nico Rabenald. Diese Entscheidung macht das Werk einem breiten Publikum zugänglich, führt aber stellenweise zu Einbußen in Sprachrhythmus und lyrischer Tiefe – besonders bei Sondheims komplexen Originaltexten.

 

Schauspiel und Gesang: Starke Frauen, etwas blasse Männerrollen

Im Zentrum des Abends stand Anna Langner als Maria, mit eindrucksvollem Sopran, starker Bühnenpräsenz und berührender Naivität. Ihre Interpretation ist vielschichtig: verletzlich, aber nicht schwach. Julian Culemann als Tony singt sicher und emotional auf höchstem Niveau, bleibt aber darstellerisch etwas zu zurückhaltend. Sein Tony wirkt freundlich und unkompliziert, was aber dazu führt, dass man ihm die Rache an Bernado nicht so ganz abnehmen will.

Herausragend: Amani Robinson als Anita. Ihre Bühnenpräsenz ist explosiv, ihre Stimme klar und durchdringend. Sie verleiht der Rolle Stolz und Tragik. Auch Simon Staiger (Riff) und Malcolm Henry (Bernardo) gestalten ihre Rollen markant und überzeugend. Lisa Wissert (Teresita), Liviana Degen (Francicsa) und Gloria Encill (Estella) bilden den Kern rund um Anita und sind vor allem durch ihr temperamentvolles und choreografisch präzises Zusammenspiel bei den großen Ensemble- und Tanznummern prässent. Sie  transportieren Themen wie Zusammenhalt und kulturelle Identität auf eine leicht verdauliche Art nach außen.

Die gesamte Cast überzeugt durch Homogenität, tänzerische Präzision (die den Tänzer:innen bei der Großen Treppe auch abverlangt wird!) und szenische Klarheit: Eine Leistung, die auf der offenen Bühne alles andere als selbstverständlich ist.

 

Technik & Licht: Atmosphäre in Bewegung

Das Lichtdesign von Daniela Stamm ist auf die wechselnden Lichtverhältnisse im Freilichtspiel abgestimmt. Keine überstrahlten Fassaden, keine plakativen Spots, sondern atmosphärische Lichtsetzungen, die Stimmungen definieren. Besonders im Duett „Somewhere“ wird Licht fast zum Raum: Wo keine Wände existieren, entsteht durch Licht eine emotionale Intimität.

Die Tontechnik ist differenziert: Stimmen und Orchester sind stets klar und dynamisch aufeinander abgestimmt. Die musikalisch komplexen Nummern wie „Cool“ oder „America“ entfalten sich rhythmisch sauber und spannungsvoll.

 

Konservativ - aber warum eigentlich?

Gerade in Abgrenzung zu progressiven Neuinszenierungen etwa in Zürich oder Wien, wo die „West Side Story“ etwa im urbanen Milieu der Gegenwart, mit inklusiven Besetzungen oder sprachlicher Aktualisierung gezeigt wird, bleibt Schwäbisch Hall bei einer klassisch-theatralen Umsetzung. Das ist kein Mangel - aber wohl eine bewusste künstlerische Haltung.

 

Publikumsresonanz & Jubiläumskontext

Das Publikum zeigt sich berührt und begeistert. Tränen bei „Somewhere“, tosender Applaus bei "Maria", spürbare Spannung in der finalen Szene. Die Atmosphäre an einem Sommerabend unter freiem Himmel trägt erheblich zur Wirkung bei.

 

Fazit: Ein starker Klassiker - sensibel ins Heute getragen

Die „West Side Story“ in Schwäbisch Hall 2025 ist keine experimentelle Neuinterpretation aber sie ist weit mehr als ein bloßes Repertoirestück. Durch starke Darsteller:innen, Symbolik, choreografische Intelligenzund musikalischer Kraft  gelingt eine Inszenierung, die berührt, aufrüttelt und nachwirkt.

Es ist eine Feier des Theaters - nicht durch Lautstärke oder Provokation, sondern durch Respekt, Detailtiefe und künstlerische Präzision.

 

Zusammenfassung (Stärken & Schwächen)

Stärken

Symbolisch starkes Bühnenbild (Zerfall der Freiheitsstatue)

Präzise Choreografie mit intelligenter Nutzung der Freilichttreppe

Musikalische Exzellenz unter freiem Himmel

Herausragender Cast-Leistung, insbesondere bei den Frauenrollen

Sensibles Licht- und Tonkonzept

 

Schwächen

Übersetzung verliert stellenweise den sprachlichen Zauber des Originals

Tony-Rolle darstellerisch etwas zu brav

Keine konsequent durchgeführte thematische Neudeutung. Muß es aber auch nicht unbedingt.

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