West Side Story

Rezension vom 16.08.25
in Luisenburg
Es gehört zu den Paradoxien der Musicalgeschichte, dass die West Side Story einerseits zu den am strengsten lizenzierten Stücken zählt, andererseits aber seit über 65 Jahren nichts von ihrer Aktualität verloren hat. In Wunsiedel begegnet man daher einer Inszenierung, die gezwungenermaßen am New York der 1950er Jahre festhält - und doch gelingt es dem Regieteam um Peter Hohenecker und Torsten Ankert, der Geschichte eine beeindruckende emotionale Frische zu verleihen.
Die Regie arbeitet mit Verdichtung statt mit Modernisierung. Besonders augenfällig wird das in der Szene, in der Maria und Tony sich beim Tanz zum ersten Mal begegnen: Während die übrigen Figuren in choreographischem Rausch verharren, verlangsamt sich für die beiden Hauptfiguren die Zeit fast bis zum Stillstand. Dieser Moment, in dem die Außenwelt unscharf wird und nur noch zwei Menschen einander wahrnehmen, ist so schlicht wie wirkungsvoll. Er zeigt exemplarisch, wie die Inszenierung aus reduzierten Mitteln große Wirkung schöpft.
Das Bühnenbild von Sabine Lindner unterstützt diesen Ansatz. Anstatt die Felsenbühne mit naturalistischen Großstadt-Requisiten zu überfrachten, setzt sie auf eine Brücke und angedeutete Häuserfronten. Das schafft gerade genug urbane Atmosphäre, um den Handlungsraum zu markieren, ohne die Naturkulisse zu übertönen. Damit entsteht eine eigentümliche Spannung: Das Drama zweier Straßengangs, gespielt im offenen Felsenrund, wirkt wie ein Kontrastbild zwischen Enge und Weite, und verstärkt den Eindruck der Ausweglosigkeit, in der die Figuren gefangen sind.
Die musikalische Seite ist ebenso präzise gearbeitet. Unter der Leitung von Peter Christian Feigel klingt das Orchester erstaunlich präsent und ausgewogen. Gerade die Bernstein-typische Mischung aus jazzigen Rhythmen und sinfonischer Dichte entfaltet hier eine besondere Wucht. In „Tonight“ etwa steigern sich die Stimmen des Ensembles Schicht um Schicht, ohne dass die Balance verloren ginge - ein Beleg dafür, wie sorgfältig hier geprobt wurde.
Im Zentrum aber stehen die Darstellerinnen und Darsteller. Sarah Weidinger als Maria ist eine Entdeckung. Sie beginnt als unschuldiges, neugieriges Mädchen, ihre Stimme klar und hell, fast schwerelos. Doch mit jeder Szene wächst sie in die Tragik hinein, bis hin zur letzten Konfrontation, in der sie eine Waffe in der Hand hält und zwischen Rache und Resignation schwankt. Gerade hier zeigt sich ihre darstellerische Stärke: Sie schreit nicht, sie übertreibt nicht. Sie lässt Schmerz, Wut und Hilflosigkeit gleichzeitig durchscheinen. Das macht ihre Maria glaubwürdig und erschütternd.
Bosse Vogt verkörpert Tony mit ehrlicher Natürlichkeit. Sein „Maria“ gerät zu einem schlichten, fast gebetartigen Liebeslied, getragen von einer warmen, unangestrengten Stimme. Manchmal fehlt ihm im Spiel die Härte, die ein Bandenmitglied plausibel machen würde. Doch gerade das passt: Tony ist kein geborener Kämpfer, sondern ein Träumer, der in die Gewalt hineingezogen wird. Vogts Darstellung macht diese innere Fremdheit spürbar und damit die Tragödie umso glaubwürdiger.
Nico Schweers als Riff und Manuel Nobis als Bernardo geben den beiden Bandenführern unterschiedliche Farben: Schweers legt Riff mit latenter Aggressivität an, jede seiner Gesten wirkt wie ein Funke, der jederzeit explodieren kann. Nobis dagegen spielt Bernardo mit einem Anflug von Würde und Brüderlichkeit. Er kämpft nicht nur aus Trotz, sondern auch aus verletztem Stolz. Diese Differenzierung macht den Konflikt zwischen Jets und Sharks greifbarer, weil er mehr ist als bloße Revierstreiterei.
Ein weiterer Höhepunkt ist Karin Seyfried als Anita. Ihre große Nummer „America“ sprüht vor Energie und Ironie, doch der eigentliche Tiefpunkt der Figur kommt später: Nach der Vergewaltigungsszene im Drugstore kippt ihre Lebensfreude in bittere Verachtung. Seyfried meistert diesen Bruch mit einer Intensität, die das Publikum spürbar erschüttert. Ein starker Kontrast, der zeigt, wie vielschichtig die Rolle angelegt ist.
Choreographisch bleibt die Produktion sehr nah am Robbins-Original. Das hat den Vorteil hoher Präzision und Wiedererkennbarkeit, birgt aber auch eine gewisse Vorhersehbarkeit. Szenen wie das „Dance at the Gym“ oder der „Rumble“ überzeugen durch Energie und Klarheit, überraschen jedoch nicht. Was fehlt, ist ein interpretatorischer Akzent, der die bekannten Bewegungsmuster neu kontextualisiert. Doch angesichts der Lizenzlage ist dieser Vorwurf nur eingeschränkt.
Am Ende bleibt der Eindruck einer Aufführung, die das Stück nicht neu erfindet, aber mit handwerklicher Sorgfalt und emotionaler Durchschlagskraft auf die Bühne bringt. Die stehenden Ovationen des Publikums sind nachvollziehbar: Man erlebte eine West Side Story, die weniger durch ästhetische Experimente als vielmehr durch Präzision, Ensemblegeist und darstellerische Wahrhaftigkeit überzeugt.
Fazit: Die Luisenburg-Produktion erweist sich als beeindruckend dichte, musikalisch exzellente und szenisch kluge Umsetzung. Wer eine radikal neue Lesart sucht, wird nicht fündig. Wer aber die Kraft des Originals erleben will, erhält in Wunsiedel ein mitreißendes, berührendes Theatererlebnis.